Stille Stunde in der Abenddämmerung

Wilhelm Seissenschmidt zeigt einmal mehr soziales Engagement


Winter 1893: Wilhelm Seissenschmidt hat sich in seiner Heimatstadt Plettenberg bereits durch viele Wohltaten hervorgetan. Für seine rund 150 Mitarbeiter hat er eine Betriebskrankenkasse eingeführt und Wohnungen gebaut.

Jeden Winter lässt er Kohlen und Kartoffeln an sie verteilen. Doch das, was er jetzt in die Wege leitet, sprengt alles zuvor Dagewesene. Um sein Geschenk an die Evangelischen Kirche zu überreichen, das indirekt der ganzen Stadt zugutekommt, hat er sich einen besonderen Tag ausgesucht, der sich für ihn vielleicht wie folgt gestaltete.  


Seit er vor einigen Jahren mit seiner Familie die Villa in der Grünestraße bezogen hatte, war es ihm zur lieben Gewohnheit geworden: Wilhelm Seissenschmidt zog sich kurz vor der Abenddämmerung auf den Turm seines Hauses zurück. Aus der offenen Laterne bot sich ihm ein wunderschöner Rundumblick: über seine nahegelegene Fabrik und seine Heimatstadt, die waldigen Berge und die von meistens sprudelnden Bächen durchzogenen Täler.

Bei entsprechender Witterung bewunderte er den Sonnenuntergang. Es waren Momente der Stille in seinem sehr geschäftigen, abwechslungsreichen Leben zwischen der Leitung seiner Fabrik, seiner ehrenamtlichen Arbeit im Magistrat der Stadt und seinen Aufgaben als Familienvater.  


Ein Jahr der Freude

Einmal im Jahr, kurz vor Jahresende, hielt er bewusst Rückschau auf Vergangenes und öffnete sich künftigen Perspektiven. Und so stand Wilhelm heute bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in seinem warmen Seehundmantel wieder einmal hier oben. Lächelnd zog er seine Pfeife aus der einen und seinen Tabaksbeutel aus der anderen Manteltasche. Er stopfte die Pfeife, drehte sich gegen die Richtung, aus der ein leichter Wind blies, und zündete sie an. Mit der Pfeife im rechten Mundwinkel paffte er still vor sich hin.  

Ein ereignisreiches Jahr lag hinter ihm. Frühjahr und Sommer waren von den Feierlichkeiten zum 30. Hochzeitstag bestimmt. Eleonore, seiner Frau, war dieses Jubiläum gar nicht so wichtig gewesen. Sie hätte es am liebsten bei der kleinen Frühlingsfeier im Familienkreis belassen. Doch Wilhelm wollte diese Möglichkeit, die Plettenberger an seinem Glück teilhaben zu lassen, nutzen. Wer wusste schon, wie viele runde Hochzeitstage man noch feiern konnte? 

Er hatte gelernt, die guten Zeiten zu nutzen. Und so gab es ein rauschendes Fest, auf dem sich Familie, Freunde und Bekannte, Unternehmer und Politik vergnügt hatten. Für seine Arbeiter und die restlichen Plettenberger hatte er auf dem Fabrikgelände Freibier ausschenken lassen. 

Ein solches Fest konnte er sich ohne Probleme leisten. Seit er Anfang der 60er Jahre auch Schrauben für den Eisenbahnbau herstellte, wuchs und gedieh seine Fabrik. Bald würde er nicht mehr wissen, wie er seine Fabrik erweitern sollte, dann wäre sein Grundstück in der Grünestraße komplett bebaut. Doch er hatte schon eine Idee, wo es Möglichkeiten zur Vergrößerung gab. Dazu müsste allerdings erstmal die Schmalspurbahn durch die engen Täler gebaut werden. Eines der Projekte, an denen er sich auf jeden Fall beteiligen würde. Er hielt sein Gesicht jetzt in den kalten Wind. 
 




… und der Trauer

Die meisten seiner mittlerweile fast 150 Arbeiter waren ihm und der Firma gegenüber sehr loyal. Das durfte er auch erwarten, denn seine Leute lagen ihm am Herzen und hatten es bei ihm wirklich gut. Er hatte Häuser für seine Mitarbeiter gebaut und eine eigene Krankenkasse eingeführt, die weit über die Leistungen der Bismarck'schen Kasse hinausging. Seinen Mitarbeitern sollte es gut gehen, sie sollten gesund bleiben und sich genug Essen leisten können. 

Und tatsächlich wussten die meisten seiner Arbeiter die Leistungen zu schätzen: Einige der Mitarbeiter waren schon seit Gründung der Firma H.B. Seissenschmidt durch seinen Vater im Jahr 1846 im Unternehmen. In gut zwei Jahren würde er das 50jährige Bestehen feiern und er plante bereits großzügige Gratifikationen, gestaffelt nach Betriebszugehörigkeit. 

Inzwischen hatte es leise zu schneien begonnen, der Wind wirbelte ihm einige Flocken ins Gesicht. Schnell verwandelten sie sich in Wassertropfen. Die Pfeife ging aus, sein Frohsinn verflog. Betrübt schaute er hinüber zur Fabrik. Einer dieser langjährigen Mitarbeiter würde das Jubiläum nicht mehr erleben. Er hatte ihn im Herbst bei einem Unfall verloren. Bis heute konnte sich Wilhelm nicht erklären, wie es hatte passieren können, dass der erfahrene Jupp in die Esse fiel. Wo doch in seiner Fabrik so auf Sicherheit geachtet wurde. Man hatte ihn sofort geborgen, mit schwersten Verbrennungen.

Er seufzte tief. Unfälle passierten in den Plettenberger Fabriken immer wieder. Manche Wunden konnte der ortsansässige Doktor behandeln. Aber häufig waren die Verletzungen zu schwer. Nur eine Operation oder Behandlung im Krankenhaus hätte helfen können. Doch das nächste Krankenhaus stand im 14 Kilometer entfernten Werdohl – und die schlechten Straßen waren für Krankentransporte nicht geeignet. 

Bei Jupp war nicht einmal an einen kurzen Transport zu denken gewesen. Man schaffte es gerade so, ihn auf einer Trage in sein Haus zu bringen. Der Doktor hatte sein Bestes gegeben, mit heilenden Salbenverbänden und schmerzlindernden Mitteln gearbeitet. Gleichzeitig verabreichte er stärkende Mittel.

Die Familie wachte Tag und Nacht bei ihm, mehrere Tage vergingen zwischen Hoffen und Bangen. Wilhelm ließ sich regelmäßig über Jupps Zustand unterrichten. Doch schnell stellte der Doktor bei seinen täglichen Hausbesuchen fest, dass sich der Zustand des Patienten verschlechterte. Am fünften Tag starb Jupp an einer Sepsis. 


Ein gereifter Entschluss

Als Pfarrer Klein dann Anfang November den dringenden Appell an die Gemeinde erneuerte, Geld für den Bau eines Krankenhauses zu spenden, fühlte sich Wilhelm beinahe persönlich angesprochen. Und er hatte gewusst, was zu tun war. Auch jetzt war er sich seiner Sache sicher. Vielleicht hätte ein Plettenberger Krankenhaus Jupps Tod nicht verhindern können, aber es hätte ihm eine größere Chance geboten, zu überleben. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, blickte ein letztes Mal über seine Heimatstadt und nickte. In der Ferne ertönte das Vorläuten der Christuskirche. 

Wilhelm wandte sich zur Treppe. Auf dem Absatz kam ihm seine Tochter Anna entgegen. „Vater“, sagte sie. „Die Kutsche ist angespannt! Wir müssen zur Kirche.“ „Gewiss“, antwortete er. „Ich komme!“ In der Halle erwartete Eleonore ihn vor dem geschmückten Tannenbaum. Er reichte seiner Frau den Arm. „Meine Liebe“, sagte er und tätschelte ihre Hand. „Heute werden wir für Plettenberg ein neues Kapitel aufschlagen.“ Die Kutsche machte sich auf den Weg in die Stadtmitte, vorbei an festlich erleuchteten Villen. Noch immer schneite es. Womöglich würde es ein weißes Weihnachtsfest geben. 

In der Kirche angekommen, ging die Familie, freundlich in alle Richtungen grüßend, zu ihren Stammplätzen in der zweiten Reihe. Das Langhaus war schon gut gefüllt, wie immer zur Christmette.

Wilhelm entschuldigte sich bei Eleonore und Anna, um in der Sakristei ein Wort mit Pfarrer Klein zu wechseln. Der staunte, als Wilhelm den kleinen Raum betrat und begrüßte ihn erfreut. „Herr Seissenschmidt, was führt Sie an diesem hohen Festtag zu mir?“, fragte er. 

Wilhelm zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels und überreichte ihn dem Pfarrer. „Sie haben recht“, sagte er. „Es wird höchste Zeit, dass Plettenberg ein eigenes Krankenhaus bekommt. Damit“, er deutete auf den Umschlag. „sollte das möglich sein.“ Pfarrer Klein öffnete den Umschlag und starrte ungläubig auf das Schreiben, das mit dem Titel „Schenkung“ überschrieben war. 

Wilhelm Seissenschmidt schenkte der evangelischen Kirche mit dem Schreiben nicht nur ein Baugrundstück für ein Krankenhaus, sondern erklärte sich auch bereit, die Kosten für den Bau zu tragen. „Das ist ja … Sie machen mich sprachlos“, sagte Klein. „Das wäre nicht gut“, antwortete Wilhelm lächelnd und deutet auf den Ausgang zum Kirchenraum. „Draußen wartet die Gemeinde auf Ihre Weihnachtspredigt!“


Wusstest du schon, dass ...

… Wilhelm Seissenschmidt eine Betriebskrankenkasse für seine Mitarbeiter gründete und ihnen als einer der ersten Unternehmer freiwillig Weihnachtsgeld zahlte?

… er der evangelischen Kirche das Grundstück spendete und darauf ein vollständig eingerichtetes Krankenhaus bauen ließ, das er ebenfalls schenkte?

… er auch einer der Gründer der Plettenberger Straßenbahn war, die Personen und Güter zwischen der Ruhr-Sieg-Bahn im Lennetal und den Seitentälern der Stadt transportierte?

… seine Geschäftsverbindungen bis nach Russland, in die Türkei und auf den Balkan reichten?

… er seinen Arbeitern im Winter wagenweise Kartoffeln und Kohlen spendete?

… er 1899 im Rahmen der neu gegründeten Seissenschmidtschen Stiftung auch den Bau eines Armenhauses in Plettenberg finanzierte?

… er 1901 starb und unter großer Anteilnahme der Plettenberger zu Grabe getragen wurde?




Auf Wilhelm Seißenschmidts Spuren

Wie du lesen konntest, hat Wilhelm Seissenschmidt in seiner Heimatstadt viel bewegt. Er war 1895 zum Beispiel auch einer der Begründer der Plettenberger Straßen- bzw. Kleinspurbahn, von der es noch einige Zeugnisse gibt. Der Märkische Museums-Eisenbahn e.V. hat die Sauerländer Kleinbahn 2 Kilometern der ehemaligen Bahntrasse Plettenberg – Herscheid reaktiviert.
Begib dich einfach mal auf die Spuren:  



Hinweis

Die Geschichte bedient sich biografischer Details von Wilhelm Seissenschmidt und einigen seiner Zeitgenossinnen und -genossen. Dennoch sind sie hier Kunstfiguren.

Beschreibungen und Handlungen der Figur sowie Ereignisse und Situationen sind fiktiv.


Literatur

Kempa, Christine, Die Sozialleistungen des Wilhelm Seissenschmidt während der Industriellen Revolution in Plettenberg, in Im Tunnel der Geschichte – Facetten aus der Vergangenheit von Plettenberg, hrsg. von Peter Schmidtsiefer und Martina Wittkopp-Beine, Plettenberg, 2008

Martina Wittkopp-Beine, Wolf-Dietrich Groote, Horst Hassel, Martin Zimmer, Zur Plettenberger Wirtschaft in der Frühindustrialisierung 1850-1895, in Plettenberger Stadtgeschichte Band 4, Von Arbeitswelten Unter- und Übertage, Plettenberg 1996

Stadt Plettenberg (Hrsg.), Plettenberger Köpfe – Interessante Persönlichkeiten der Stadt Plettenberg, S. 73, Plettenberg, 2000
 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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