Schwierige Zeiten im Bauernhaus Wippekühling in Schalksmühle

Kein gutes Jahr für die Bauern im westlichen Sauerland: 1829 regnet es monatelang. An eine Ernte, geschweige denn an eine gute, ist nicht zu denken. Das Getreide auf den Feldern ist ertrunken, die Kartoffeln bleiben kümmerlich. Die Kleinbauern sind harte Arbeit gewohnt, bei der alle mit anpacken. Auch Jacobs Familie hat schon lange gelernt, mit unerwarteten Bedingungen umzugehen. Sogar, wenn es noch schlimmer kommt, als erwartet. Wenn Dinge passieren, die ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. So wie in diesem November.


Jacob horcht auf. Schnell verbirgt er die Hände hinter dem Rücken. Eine schwere Böe zerrt an Hemd und Hose, während er sich hinter dem Stamm der Eiche im Hof versteckt. Die Mutter ruft. Soeben tritt sie aus dem großen Tor des Bauernhauses, trocknet sich die Hände an der dunklen Schürze. „Jacob!“, ruft sie gegen das Brausen des Windes an. „Komm herein!“ Er zögert, blickt auf die Birne, die verlockend in seinen Händen liegt. Der Novembersturm hatte die letzte Frucht vom Birnbaum geschüttelt, der ein paar Meter hinter ihm steht. 

Sie war direkt vor seinen Füßen gelandet. Prall und ganz bestimmt zuckersüß. Ein Geschenk des Himmels. Wenn er sie jetzt mit hineinnimmt, packt die Mutter sie in die Milchkammer. Das will er aber nicht. Sie gehört ihm. Verzweifelt überlegt er, wo er sie verstecken kann. Die Mutter steht noch immer in der Tür, ruft wieder „Jacob!“. Laut, energisch. Dann dreht sie sich um. „Heinrich“, hört er sie ins Haus brüllen. „Wo ist Jacob?“ Die Antwort des Vaters ist nicht mehr als ein Grummeln. Jacob kommt eine Idee. Er nutzt die Chance, hinter Mutters Rücken zum Haferkasten zu flitzen. 



Süße Träume

Das Manöver gelingt. Am hölzernen Häuschen ist ein Brett lose. Bis morgen kann er seine Birne dort lagern. Schnell verstaut er die Frucht. Mit rotem Kopf biegt er kurz darauf um die Ecke des Getreidespeichers und läuft zum beinahe fensterlosen Bauernhaus, das am Hang Wippekühling auf einem kleinen Plateau steht. Er prallt mit dem Vater zusammen, der ihn sogleich am Ohr ins Innere zieht. „Was hast du jetzt schon wieder ausgeheckt?“, fragt er. Zwecklos, zu antworten oder sich zu wehren. Stillhalten ist die beste Methode. Der Vater schließt mit der Rechten geschickt das mächtige Tor und zerrt Jacob durch die Küche in die nur durch eine Talglampe beleuchtete Stube. Sein Jüngster hat seinen eigenen Kopf, aber er wird ihm die Flausen schon austreiben. 


Am Tisch warten die Geschwister. Jedes hält seinen Löffel senkrecht in der Hand. Auch Knecht Frieder schaut ihn missmutig an. Au weia. Eigentlich ist er Jacobs Freund, aber beim Abendessen versteht Frieder keinen Spaß. Über dem offenen Feuer in der Küche hängt der Kessel mit der brodelnden Suppe. Ihr Aroma geht im Rauch unter. Die Tenne, das Haus sind davon erfüllt. Die Mutter rührt ein letztes Mal um, dann schöpft sie den Inhalt nach und nach in die Schalen, die Magd Erna ihr reicht. Je zwei Kellen für den Vater und für Frieder. Anderthalb Kellen für Peter, den ältesten Sohn. Je eine Kelle für die Mädchen Mathilde und Almut sowie für den mittleren Sohn Karl. Für sie selbst und Erna ebenfalls eine Kelle. Und für Jacob den kleinen Rest. 

Empört schaut Jacob in seine Schale, doch er schweigt und denkt an die versteckte Birne. Nach dem Gebet ist jeder mit seiner Mahlzeit beschäftigt. Auch die Tiere nebenan auf der Tenne. Die drei Kühe käuen ihr Heu wieder, das Pferd knabbert am Hafer und die Kühe am Gras. Jacob versenkt das Schwarzbrot in die Suppe, um es aufzuweichen. Dann löffelt er es munter wieder heraus. Alles ist wie immer. Scheinbar. 

Wenig später liegt er mit Brüdern und Schwestern, Magd und Knecht oben auf der Galerie im Strohbett. Kaum, dass er liegt, schläft er bereits. Direkt unter der Schlafnische jedoch – im Bettkasten in der Stube – unterhalten sich Heinrich und Margarethe lange flüsternd. Der monatelange Regen hat das Heu auf den Weiden faulen lassen, der Futtervorrat für die Tiere ist knapp. Sie müssen so lange wie möglich hinaus auf die Weide. Die Kartoffelernte war karg, Roggen und Hafer konnten bisher nicht geerntet werden. Selbst wenn eine Ernte noch gelingen sollte, wird ihr Ertrag minimal sein. 

Zu allem Überfluss konnte bisher – immerhin ist es schon Mitte November – die Wintersaat nicht ausgebracht werden. Sie würde in den schweren feuchten Böden schnell verfaulen – wenn das Wasser sie nicht gar hangabwärts schwemmte. Für den Winter sieht es also düster aus. An das kommende Jahr mögen sie gar nicht denken. Währenddessen saust der Sturm laut um die Hausecken und in Jacobs Traum verschmilzt sein Pfeifen mit dem Schütteln des Birnbaums. Soeben fängt er eine kürbisgroße Birne, legt sie zu Boden und umarmt den Baum glücklich. 



Beginnender Tag

Lange vor Morgengrauen ist das gesamte Haus wieder wach. Der Sturm hat nachgelassen, es regnet seit Monaten erstmals etwas schwächer. Mutter Margarethe facht in der Küche das Feuer an. Erna melkt die Kühe. Frieder und Peter beginnen, den Stall zu misten. Der Haufen unter der Eiche neben dem Tor dampft vor sich hin. Bauer Heinrich begutachtet auf einem der Felder den Stand der Dinge, schaut die kläglichen Haferpflanzen an, klaubt etwas Erde auf, wirft sie wieder auf den Boden und schüttelt den Kopf. Nass und schwer. Der Hafer ist wegen des vielen Regens nicht gereift und mit dem Roggen auf der anderen Seite des Wegs sieht es auch nicht besser aus. 

Im Haferkasten liegt dieses Jahr nur wenig Saatgut. Was soll er damit machen? Säen oder aufheben? Säen, sie müssen es wagen, bevor der Winter einbricht. Keine Saat, keine Ernte. Doch natürlich ist der Boden noch zu nass, selbst an den Hängen läuft das Wasser kaum ab. Immerhin macht der nachlassende Regen etwas Hoffnung. Er nickt und kehrt zurück, die Daumen in die Hosenträger gehakt.

Dort haben die Mutter inzwischen Getreidekaffee gekocht, Mathilde frische Milch bereitgestellt und Almut Brot geschnitten. Alle kommen für ein kurzes Frühstück am Tisch zusammen. „Peter, Karl: Ihr geht heute zur Schule“, ordnet der Vater an. „Nehmt euch Brot und macht euch auf die Socken!“ Die beiden sind eher erstaunt als begeistert. Die Strecke zur Heesfelder Schule ist nicht gerade der nächste Weg. Andererseits ist die Arbeit auf den schlammigen Feldern auch nicht besonders verlockend. 

„Mathilde, Almut, Jacob: Ihr geht in den Wald und holt Holz!“ Er erhebt sich, fordert Frieder durch eine Kopfbewegung auf, mit ihm zu kommen. Margarethe beginnt, die Stube aufzuräumen und Erna begibt sich in die Milchkammer, wo sie den Milchrahm langsam zu Butter verarbeitet. Samstags verkauft der Bauer sie auf dem Markt und heute ist schon Donnerstag. 


Tägliche Arbeit

Jacob und seine Schwestern machen sich indessen auf den Weg durch den Wald, um Brennholz zu sammeln. Alle drei haben eine Rückentrage angelegt. Der Wald ist wie ausgefegt, weil die gesamte bäuerliche Nachbarschaft hier immer wieder Holz holt. Eine halbe Stunde müssen sie gehen, bis sie einen guten Sammelort erreichen.

Der Mischwald geht hier langsam in Nadelwald über. Jacob beginnt, Reisig zusammenzusuchen, er bündelt es und legt es zu einem Haufen zusammen. Mathilde hackt mit der alten Axt die Äste von einer vom Wind geworfenen Fichte ab. Almut sorgt dafür, dass dabei nichts verrutscht. Sorgsam befreien beide die Äste von den Zweigen, werfen sie Jacob für seine Bündel zu. Sie schichten das Holz auf den Brettern der Tragen und zurren es mit Seilen fest. Der Raum will gut genutzt sein. 

Ungeduldig stopft Jacob die neuen Zweiglein zu seiner Ausbeute und bindet sie ebenfalls fest. Er will zurück, seine Birne wartet. Schon schwingt er seine gut gefüllte Trage auf den Rücken und wendet sich zum Rückweg. Die Schwestern schließen sich ihm an.

Gegen Mittag sind sie auf dem Hof zurück. Im Wald waren sie vorm Regen geschützt, doch die restliche Strecke durch den Nieselregen hat ihre Kleidung durchnässt. Fröstelnd öffnet Mathilde das Tor. Erna hat die Tiere auf die Weide gebracht. Mutter Margarethe steht am offenen Feuer. Im Kessel blubbert Haferbrei.

Die Kinder stellen ihre Rückentragen an einem Balken ab und laufen zum Feuer, um sich aufzuwärmen. „Gleich ist Mittag", sagt Margarethe. "Geh den Vater und Frieder holen“, fordert sie Jacob auf. Der lässt sich nicht lang bitten. Schließlich hatte er schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, beim Haferkasten vorbeizusehen. Schnell huscht er hinüber und lugt unter das Brett. Sie ist noch da! Froh hüpft er den Feldweg hinunter. Er sieht seinen Vater am Rand des linken Feldes, das sich hangabwärts erstreckt. Frieder hat mit Pflug und Pferd gerade eine schnurgerade Furche vollendet, ungefähr auf der Hälfte des Feldes hat er die kläglichen Reste des nicht reif gewordenen Hafers untergearbeitet. Für Jacob sieht es so aus, als würden sie die Saat vorbereiten. Aber Peter und Karl sind doch in der Schule. Sie werfen sonst die Saat aus. Jacob kratzt sich am Kopf. Dann rennt er weiter, den Männern entgegen. „Mittagessen“, japst er.



Drehender Wind

Heinrich nickt knapp, Frieder spannt das Pferd aus. Schweigend gehen sie bergan zum Haus. Frieder mit dem Pferd am Zaumzeug, Vater und Sohn die Daumen in die Hosenträger gehakt. Der Wind pfeift durch ihre Beine, viel kälter, als vor einer Stunde. Abrupt bleibt Heinrich stehen. Er schnuppert, horcht, guckt in die Luft, guckt auf die Krone der großen Eiche neben seinem Haus. Dreht sich um, schaut den Weg hinunter bis zu den beiden Eichen, die den Feldweg begrenzen. Lässt den Blick über die gegenüberliegenden bewaldeten Berge – den Hüttenberg, den Bocksberg und den Ahnritt – und über den Himmel mit den tiefen Wolken gleiten.

Vorsichtshalber steckt er einen Finger in den Mund, hält ihn anschließend in die Luft. „Ostwind!“, stellt er fest und beginnt zu fluchen. „Schnell!“, treibt er Frieder und Jacob an. „Wir bekommen Schnee!“ „Schnee?“, ruft Jacob, doch der Jubel in seiner Stimme erstirbt, als er das Gesicht seines Vaters sieht, das unter dem verstrubbelten grauen Haaransatz aschfahl und grimmig erscheint. Eilig laufen sie den Hügel hinauf zum Haus. Frieder bringt das Pferd auf die Weide, um es über Mittag grasen zu lassen. So ganz versteht Jacob den Aufruhr nicht. Aber er versteht, dass seine Birne weiter warten muss. 

„Margarethe“, ruft Heinrich schon vom Tor ins dunkle Haus hinein. „Es gibt Schnee! Wir müssen uns sputen.“ „Schnee?“, fragt sie ungläubig und auch die Mädchen blicken erstaunt von ihrer Arbeit auf. „Ja, heute noch. Spätestens bei Nacht.“ „Aber sicher nur ein bisschen“, versucht sie ihn zu beruhigen. Er schüttelt den Kopf. „Komm, guck‘ raus.“ Margarethe schnuppert kurz, das reicht ihr als Bestätigung für Heinrichs Voraussage. Sie nickt und auch Frieder macht ein sorgenvolles Gesicht. „Ausgerechnet heute habe ich die Söhne in die Schule geschickt!“, sagt Heinrich und beginnt wieder zu fluchen. „Heinrich!“, schilt ihn Margarethe und blickt ihn beschwörend an, was so viel heißt wie Nicht vor den Kindern!. 

Heinrich zuckt die Schultern und beginnt, Aufgaben zu verteilen. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass wir nicht aus dem Haus können. Mädchen, ihr geht nochmal in den Wald. Wir brauchen mehr Holz. Jacob, du kommst mit aufs Feld. Erna, du holst gleich die Tiere. Schau, dass du noch etwas Heu zusammenbringst. Margarethe, du fegst die Eicheln zusammen und holst sie ins Haus“, er dreht sich zum Tor und will wieder hinaus. „Wohin?“ fragt seine Frau. „Das Essen wartet.“ „Keine Zeit“, antwortet Heinrich. „Doch“, sagt Margarethe. „Wir essen!“ Mürrisch gibt sich Heinrich geschlagen. Doch es ist eine kurze Mahlzeit.


Zerrinnende Zeit

Frisch gestärkt verlassen die Männer kurz darauf das Haus. Jacob möchte zum Speicher abbiegen, doch dann trottet er doch brav hinterher. Und erhält die Aufgabe, das Pferd von der Weide zu holen. Zum Glück hatte Frieder das Zaumzeug drangelassen. Jacob führt das Pferd problemlos zum Leiterwagen, auf den Vater und Knecht die hölzerne Egge verladen. Heinrich hat sich entschieden, trotz des Schnees auf einem halben Feld Roggen auszusäen. Zuvor müssen sie den gepflügten Boden allerdings noch mit der Egge bearbeiten. Frieder hatte die Stirn gerunzelt. Dass dies nicht den bewährten Bauernregeln entspricht, weiß Heinrich selbst. Doch wer kann sagen, ob der Boden in diesem Jahr noch einmal auftauen wird? Unter dem Schnee hat das Saatgut immerhin eine kleine Chance, sich im Boden zu entwickeln. 

„Jacob, hol‘ den kleinen Sack mit Roggensaat“, fordert er seinen Sohn auf. Der macht große Augen, trollt sich aber in Richtung Haferkasten. Jacob sieht in den Kasten hinein und zieht an dem Sack, der gleich vornean steht. Auch eine Karre für den Transport steht dort bereit. Heimlich blickt er in die hintere rechte Ecke und stellt erleichtert fest, dass seine Birne gut verborgen ist. Darum versucht er, den Sack zu heben, stellt sich mit dem Rücken davor und greift über die rechte Schulter mit beiden Händen nach dem zugeschnürten Ende. „Uff!“, schnauft er, als der Sack auf seiner Rückseite liegt. Gebeugt setzt er langsam einen Fuß vor den anderen. 

Frieder sieht die kleine, gekrümmte Figur auf sich zuwanken, springt vom Wagen und läuft ihr entgegen. Er greift nach dem Sack, wirft ihn sich auf die Schulter und klopft Jacob grinsend auf den Rücken. „Wir wollen ja nicht, dass du einen Buckel kriegst“, sagt er. Beim Wagen angekommen, wirft er den Sack hinauf, hebt Jacob daneben und schwingt sich selbst aufs Brett. Heinrich sitzt schon auf dem Bock und gibt dem Pferd mit einem Schnalzen das Signal zum Losgehen. Die nächsten Stunden sind für die Menschen und Pferd von Arbeit erfüllt. Erst wird die Egge angespannt und Frieder führt das Pferd über die gepflügte Hälfte des Feldes. Während leichter Schnee einsetzt, folgen Heinrich und Jacob ihm mit je einem Eimer Roggensaat und werfen sie in weitem Bogen auf die Erde. Als sie damit fertig sind, beraten sich Heinrich und Frieder kurz. Sie verladen die Egge wieder auf den Wagen. Anschließend spannt Frieder den Pflug an und kümmert sich um die andere Hälfte des Felds. 

„Geh‘ hinauf und hilf der Mutter“, sagt Heinrich bald darauf zu Jacob. Der lässt sich das nicht zweimal sagen, denn die Kälte zieht ihm inzwischen durch Mark und Bein. Er nickt und läuft, begleitet von klitzekleinen tanzenden Schneeflocken, sich ein paarmal um die eigene Achse drehend, den Weg hinauf zum Haus. Die Mutter harkt vor dem Haus Eicheln und Laub zusammen. Als sie ihren Jüngsten sieht, winkt sie ihn zu sich und drückt ihm die Harke in die Hand. „Mach‘ du weiter“, sagt sie. „Ich bringe die Eimer hinein.“


Geschäftige Stunden

Während Jacob harkt, kommt Erna mit den Kühen und schnappt sich auf der Tenne Melkschemel und -eimer. Kurz darauf hört er seine Brüder den Hügel herunterkommen. Jeder trägt ein Bündel Kleinholz, geschnürt mit einem Bindfaden. Jacob lässt die Harke fallen und rennt ihnen entgegen. „Der Vater sagt, es gibt Schnee!“, verkündet er. „Haben wir gemerkt“, sagt Peter grinsend. „Deswegen sind wir ja schon zurück!° Schwatzend gehen die Jungen ins Haus, wo die Älteren das Holz abladen. Margarethe lobt die Jungen und gibt ihnen den kleinen Rest Haferbrei. Dann hebt sie mit einer Stange eine fette Speckschwarte aus dem Rauchfang und widmet sich wieder dem Abendessen.

Jacob schickt sie wieder hinaus zum Harken, der geht schmollend. Doch auch Peter und Karl bleiben von Arbeit nicht verschont, denn wenig später sieht der Jüngste sie mit Sense, Rechen und Rückentrage weit nach oben zur zweiten Weide gehen. Dorthin, wo wenig Sumpf ist. Als Jacob mit dem Harken fertig ist, füllt er seine Ausbeute in den letzten Eimer und schleppt ihn ins Haus. Als er wieder herauskommt, sieht er seine bepackten Schwestern. Jede trägt außer der Rückentrage ein Reisigbündel im Arm. Jacob rennt ihnen entgegen. „Es schneit!“, verkündet er. Die beiden schauen sich an und kichern. „Haben wir gar nicht gemerkt“, sagt Mathilde und klopft sich mit einer Hand die Flocken von der Jacke. 

„Jacob, geh‘ den Vater und Frieder zum Abendessen holen“, ruft die Mutter im selben Moment aus dem Haus, als Peter und Karl um die Ecke biegen. Drinnen herrscht Geschäftigkeit. Das Holz der Mädchen, das Gras der Jungen und die Werkzeuge müssen verstaut werden. Über dem Feuer brutzeln Speck und Kartoffeln in einer Pfanne. Immerhin ist es dort hinten warm. Seufzend zwängt sich Jacob durch das jetzt angelehnte Tor und läuft durch die immer dickeren Flocken bergab. 

Die beiden Männer haben es geschafft, ihr Tagwerk bis kurz nach Sonnenuntergang zu vollenden. Der Pflug steht neben der Egge auf dem Wagen, das Pferd ist angespannt. Wieder setzt Frieder den Jungen hinten auf den Wagen und schwingt sich daneben. Im Schneegestöber rollt der Wagen gemächlich bergan. Oben springen sie ab. Schnell sind Geräte und Wagen im Schuppen neben dem Schweinekoben verstaut. Jacob bringt das treue Pferd hinein, seine Brüder reiben es trocken. Dann ist Feierabend. Das Tor schließt sich, Eis und Kälte bleiben draußen.

Wie am Abend zuvor pfeift der Wind ums Haus. Nach der Geschäftigkeit der letzten Stunden verschlingt die Gemeinschaft die gebratenen Kartoffeln, die fast wie ein Festmahl anmuten. Festmahl? Siedend heiß fällt Jacob seine Birne wieder ein. Sekundenlang starrt er grübelnd in seine Schüssel. Und nun? Das Tor ist geschlossen, heute kommt keiner mehr raus. Langsam löffelt er seine Kartoffeln. Gleich gehen alle zu Bett. Aber morgen muss er sich um seinen Schatz kümmern. Dann fallen ihm noch am Tisch die Augen zu.

Auch von den anderen ist nach dem anstrengenden Tag keiner mehr lange wach. An diesem Abend gehen die Talglampen früh aus. Ein paar Minuten hört man Heinrich und Margarethe noch flüstern. Dann mischt sich nur noch das Rascheln der Rinder, das Schnauben des Pferds und das Schnarchen der Männer ins Sturmgeheul.



Schneereicher Tag

Der nächste Morgen graut noch nicht einmal, als das gesamte Haus schon wieder auf den Beinen ist. Wie immer haben sich die Tiere zuerst gerührt. Sie verlangen nach Futter, sodass für die Familie wie für Erna und Frieder sofort die morgendliche Routine beginnt. Heinrich öffnet vorsichtig die Nebentür, die zur Hangseite führt. Viel kann er nicht erkennen, noch ist es zu dunkel. Der Lichtschimmer aus dem Haus zeigt ihm jedoch eine schimmernde Schneedecke von gut einem halben Meter, die bis zur Schwelle reicht. Ganz ordentlich für eine einzige Novembernacht. Der Wind bläst stark, fängt sich zwischen Haus und Hang, wirbelt einen Schwung Eiskristalle ins Haus. Schnell schließt er die Tür wieder. Es ist wie befürchtet. Felder und Weiden sind schneebedeckt, dort werden sie vorerst nichts mehr voranbringen können. Und die Tiere müssen auf der Tenne bleiben. 

Zum Frühstück verteilt Heinrich die Aufgaben des Tages. Erna kümmert sich um die Tiere, die Jungen überholen die Werkzeuge, Margarethe und die Mädchen flicken Kleidung und Wäsche. Er selbst und Frieder bahnen sich draußen einen Weg zum Schuppen und holen den Pflug herein, um ihn in der Tenne zu säubern und zu schmieren. Jacob soll eigentlich Erna bei den Tieren helfen, doch die winkt ab und schickt ihn raus. Jetzt steht er draußen vor dem Haus, in der schmalen Schneise, die die Männer entlang des Misthaufens, am Tor vorbei, um die Hausecke bis zum Schuppen in den Schnee geschippt haben. 

Noch nie hat Jacob so viel Schnee gesehen. Mit glänzenden Augen greift er einen klitzekleinen Teil der weißen Masse, lässt sie wieder fallen. Nimmt wieder etwas Schnee, formt eine Kugel und wirft sie an die Eiche. Eine weitere fliegt in Richtung Birnbaum, erreicht ihn aber nicht. Dann formt er noch eine Kugel, will sie zu einer größeren rollen. Doch der Schnee liegt einfach zu hoch, er reicht ihm bis zur Hüfte. Und alleine macht das alles sowieso keinen Spaß. Dann blickt er zum Haferkasten hinüber, versucht, sich in dessen Richtung durch die weiße Masse vorzuarbeiten.

Er tastet, versucht, den Schnee mit den Füßen plattzutreten. Nimmt die Schaufel, die an der Hauswand lehnt, beginnt den Schnee zu schippen, wie der Vater es getan hat. Doch das Gerät ist schwer, zu schwer. Erneut versucht er, sich mit ganzem Körpereinsatz einen Weg zu bahnen. Er lässt sich vornüber hineinfallen, klettert auf den platten Schnee und lässt sich nochmals fallen. Aber der Schnee ist kalt und er ist sehr nass. Wie soll er denn jetzt an seine Birne kommen? Frieder tritt aus dem Tor, um etwas aus dem Schuppen zu holen. „Du bist ja ganz nass!“, sagt er zu Jacob. „Geh besser ins Haus.“ 

Das macht Jacob auch und stellt sich schlotternd direkt ans Herdfeuer, an dem Margarethe gerade Haferbrei kocht. Als sie ihren Sohn bibbern sieht, verzichtet sie auf eine Ermahnung. Stattdessen reicht sie ihm eine Strickjacke, aus der Karl lange herausgewachsen ist. Noch mehr als die Jacke hilft ihm jedoch die Mahlzeit, sich wieder aufzuwärmen. Danach geht die Arbeit im Haus weiter. 

Jacob kennt es gar nicht, dass alle den Tag drinnen verbringen. Doch draußen schneit es unaufhörlich. Und auch in einem Bauernhof ist immer etwas zu tun. So geht Jacob von einem zum anderen. Er schaut den Brüdern zu, dann dem Vater und Frieder. Auch seinen Schwestern und der Mutter. Einmal lugt er noch aus dem Tor hinüber zum Haferkasten. Im Dämmerlicht erkennt er, dass selbst seine kleine Schneise bereits wieder zugeschneit ist. 


Kleines Glück

Der nächste Tag bringt keine Veränderung, im Gegenteil. Heinrich, der seine wöchentliche Wanderung zum Markt  vorhatte, steht am Morgen vor einer auf einen Meter angewachsenen Schneedecke. Selbst mit Schneeschuhen hat es keinen Zweck, sich auf des Weg zu machen. Denn auch kein Wagen wird es zum Markt schaffen. Sein eigener Feldweg ist unter den weißen, frostigen Massen nicht mehr zu erkennen. Er muss auf dem Hof bleiben. Für Margarethe hat dies auch eine gute Seite, denn ausnahmsweise kann sie die Butter in der Küche selbst verwenden. Frieder schippt den kleinen Pfad zum Schuppen erneut frei. Jacob folgt seiner Furt und stellt fest, dass er den Haferkasten nur sehen kann, wenn er springt. So sehr er sich über den Schnee gefreut hat: Jetzt wünscht er, er würde schmelzen.

Am Sonntag muss die Familie auf den Kirchgang verzichten. Zwar hat der Schneefall etwas nachgelassen, doch es ist kein Durchkommen. Den Haferkasten sieht Jacob jetzt nicht einmal mehr, wenn er hochspringt. Traurig steht er in der Biegung des Pfads. Als Frieder ihn so sieht, hebt er ihn auf den Arm.  „Jacob, was ist?“, fragt er. Der schnieft. „Was?“, hakt Frieder nach. „Der Haferkasten …“, schluchzt Jacob. „Ich komme nicht zum Haferkasten.“ „Aber was willst du denn am Haferkasten?“, fragt Frieder. Jacob schüttelt den Kopf. Nicht mal Frieder will er sein Geheimnis verraten. „Ich kann dir aber nur helfen, wenn du mir sagst, was du am Haferkasten willst.“ Jacob zieht die Nase hoch. „Da ist ein Schatz“, flüstert er. „Ein Schatz? In unserem Haferkasten?“ Jacob nickt. „Und den brauchst du jetzt?“ Jacob nickt nochmals. Frieder setzt den Jungen ab und kratzt sich am Kopf. 

„Na, wenn du den Schatz jetzt brauchst, müssen wir wohl einen Weg finden“, sagt er und zwinkert Jacob zu. Er greift nach der Schaufel und beginnt kräftig zu schippen. Schaufel um Schaufel türmt er den Schnee zu beiden Seiten auf, bis er einen fünf Meter langen Pfad bis zum Haferkasten gebahnt hat.

„Hinten“, sagt Jacob, der ihm auf dem Fuß folgt. „Hinten?“ Jacob nickt und Frieder, dem inzwischen schon Schweißperlen auf der Stirn stehen, nimmt einen weiteren Meter in Angriff. „Unten“, sagt Jacob. „Unten?“, fragt Frieder. Wieder nickt Jacob und zeigt auf die Ecke des kleinen Gebäudes. 

Frieder legt die Ecke frei. „Und jetzt?“, fragt er. „Das lose Brett“, sagt Jacob, kniet sich auf den Boden und ruckelt am Holz. Das bewegt sich keinen Millimeter. „Ich fürchte, das Brett ist gerade nicht lose“, sagt Frieder. „Es ist angefroren.“ Jacob sieht ihn verzweifelt an. „Aber warte mal.“ Frieder geht zum Haus, kehrt bald darauf mit einer Schale heißen Wassers zurück und kippt sie auf die Ecke. Dann ruckelt er selbst am Holz. Tatsächlich löst sich das Brett jetzt. Frieder schiebt es zur Seite und lässt Jacob hineingreifen. Der bringt beglückt seine Birne zum Vorschein – und lässt sie abrupt fallen. Die Frucht ist eiskalt! 

Frieder hebt sie auf. „Eine Birne“, sagt er. „Eine sehr große Birne. Das ist aber wirklich ein Schatz.“ Jacob strahlt und nickt. „Und was machst du jetzt damit? Möchtest du sie woanders verstecken?“ Jacob schaut ihn groß an. Das ist eine sehr wichtige Frage. Er senkt den Kopf und spielt mit einem Fuß im Schnee. „Nein“, sagt er schließlich und schaut Frieder glücklich an. „Ich bringe den Schatz der Mutter.“ „Das ist gut“, antwortet Frieder. „Denn die Mutter weiß bestimmt, was man mit einer gefrorenen Birne an einem Sonntag machen kann!“ Jacob nickt und läuft mit der kalten Frucht davon, vorbei am Vater, der gerade aus dem Tor tritt. Heinrich staunt nicht schlecht, als er den Pfad zum Haferkasten erblickt. „Was soll das denn?“, fragt er. Frieder deutet auf die hintere, untere Ecke des Haferkastens. „Hier war ein Brett lose“, sagt er und geht am Bauern vorbei, um Hammer und Nägel zu holen. 


Besuch doch mal das Bauernhaus Wippekühl in Schalksmühle!

Denn dies ist das frühere Bauernhaus Wippekühling, in dem unsere Geschichte spielt. Es wurde um 1600 gebaut und Ende des 20. Jahrhunderts aufwändig renoviert.

Heute ist das Bauernhaus Wippekühl, ein Fachwerkhaus mit hohem Bruchsteinsockel, ein Heimatmuseum, das dir einen Eindruck vom bäuerlichen Leben in früheren Zeiten vermittelt. Drinnen und draußen findest du zum Beispiel historische Geräte. Die mittlerweile riesige Eiche steht im Hof vor dem Tor. Sie ist heute, fast 200 Jahre, nachdem die Geschichte spielt, ein Naturdenkmal.

Und schräg gegenüber kannst du dir einen Haferkasten im originalgetreuen Nachbau ansehen. Mach dich einfach auf den Weg und begib dich auf Jacobs Spuren. Einen Besichtigungstermin – auch für Gruppen, Kindergärten und Schulklassen – kannst du individuell vereinbaren. 
 

Weitere Informationen



Veranstaltungen im Bauernhaus Wippekühl

Das Bauernhaus Wippekühl ist heute auch Veranstaltungsort, in dem beispielsweise Konzerte stattfinden.
Sie werden vom Freundeskreis Bauernhaus betreut. 
 

Zum Veranstaltungskalender


Übrigens könnt ihr euch im Bauernhaus Wippekühl auch standesamtlich trauen lassen.



Wusstest du schon, dass ...

… im ganzen Sauerland 1829 auf sehr regenreiche Monate tatsächlich ein extrem strenger Winter folgte? 

… es sehr anstrengend war, an den steilen Hängen in Schalksmühle überhaupt etwas anzubauen?

… auf den kargen Böden in der gebirgigen Region hauptsächlich Hafer und Roggen gediehen?

… die einfachen Bauern ihre Butter nicht selbst aßen, sondern verkauften, um Geld z. B. für Saatgut zu verdienen?

… auf einem Hof in der beschriebenen Größe ein Schwein pro Jahr geschlachtet wurde?

… das Fleisch in den Rauchfang gehängt wurde, um es haltbar zu machen und sich aus dieser Tradition z.B. der Westfälische Schinken entwickelte?

… die Bauern kein Holz auf Vorrat hatten, sondern es sich aus den umliegenden Wäldern holten?

… sie in besonders harten Wintern sogar ihre Obstbäume fällen mussten, um ihr Feuer in Betrieb zu halten?

… manche Kleinbauern auch mit Wasserkraft betriebene Schmieden hatten?

… sich die finanzielle Lage der Kleinbauern etwas besserte, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung des Volmetals begann und ihnen einen Nebenerwerb bot?



Literatur

Franz, Karl, Schalksmühle im Wandel der Zeit, in: Der Märker – Heimatblatt für den Bereich der ehem. Grafschaft Mark, 6. Jhrg. 1957, November Heft 11, S. 421-425, Altena 1957

Baukloh, Hermann, Aus dem bäuerlichen Leben unserer Heimat, in: Der Märker – Heimatblatt für den Bereich der ehem. Grafschaft Mark, 6. Jhrg. 1957, November Heft 11, S. 436-437, Altena, 1957

Heimatbund Märkischer Kreis e.V. (Hrsg.), Gemeinde Schalksmühle – Beiträge zur Heimat- und Landeskunde, Altena, 1996

Gundermann, Rita, Der Take-off der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert und seine Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft, in: Agrarmodernisierung und ökologische Folgen: Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, S. 47-83, Paderborn, 2001

Bruns, Alfred, Zur Agrargeschichte des Südlichen Westfalen, in: Westfälisches Schieferbergbau- und Heimatmuseum Schmallenberg-Holthausen e.V. (Hrsg.), Bauern im südwestfälischen Bergland, Band 1, S. 11-46, Münster, 2006
 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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