Theodor reckte sich noch einmal und sprang auf. Fast zu schwungvoll, denn um ein Haar hätte er sich den Kopf an den Dachbalken gestoßen. Er kletterte die Leiter in seine Stube hinunter, schnappte seine Holzschale, ging die Stiege hinab und stellte die Schale zunächst im kleinen Fenster des Schulraums ab. Erstmal brauchte er eine Erfrischung. In den Trog an der Mühle sprudelte frisches Wasser, er nahm einen Schluck, tauchte den Kopf unter und wusch sich. Dann holte er die Schale und schlenderte er zum Stall. Die Ziege sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.
Zwei Minuten später trat er wieder aus dem Stall und sah an sich herunter. In der Schale war nicht mehr als eine kleine Pfütze, Sprenkel waren auf seiner Kleidung verteilt. Theo trank den Schluck Ziegenmilch. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Eine ziemlich zickige Ziege war das. Kopfschüttelnd ging er erneut zum Trog, um sich zu säubern. Dann trat er in den Schulraum. Draußen begann ein strahlender Frühlingstag, doch hier drinnen war es düster und kühl. Die Sonne fand keinen Weg hinein durch die kleinen offenen Fenster in den dicken Wänden. „Sei’s drum“, dachte er. „Wenn erst die Kinder hier sind, wird es von selbst wärmer.“ So langsam müssten sie auch auftauchen. Er betrachtete die Tafel mit dem Alphabet. In der Nacht hatte er sich alles zurechtgelegt. Zuerst würde er schauen, wie es in der Klasse mit dem Buchstabieren, Lesen und Schreiben bestellt war.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er drehte sich um und sah in einem der Fenster einen strubbeligen Haarschopf. Daneben tauchten ein gerader Scheitel auf. „Kommt herein!“, rief er, doch außer einem Wispern vor dem Fenster tat sich nichts. Er schaute durch die Tür und entdeckte einen Buben und ein Mädel, beide zwischen sechs und sieben Jahren. Mit großen Augen schauten sie ihn an. „Seid ihr allein?“, fragte er. Der Junge nickte. „Wo sind die anderen?“ Beide blieben stumm. „Auf dem Acker“, antwortete das Mädchen schließlich. „Auf dem Acker?“, wiederholte Theodor. „Alle?“ Beide zuckten mit den Schultern. Das fing ja gut an, schließlich richtete sich seine Bezahlung nach der Anzahl der Schüler.
Er winkte die beiden herein. Sie hockten sich auf zwei Plätze in der hintersten Ecke. „Nein, nein, nein“, sagte Theodor. „Kommt hierher!“ Er deutete auf die erste Reihe. Beide zogen die Köpfe ein, gehorchten aber. So weit vorne fühlten sie sich sichtlich unwohl, doch Theodor ließ sich davon nicht beeindrucken. „Wie heißt ihr?“, fragt er. „Heinrich“, hauchte er. „Liese“, antwortete sie leise. „Also gut, Heinrich und Liese. Was habt ihr denn schon gelernt? Könnt ihr mir die Buchstaben vorlesen?“ Theodor deutete lächelnd erneut auf die Tafel.
Schweigen. Plötzlich durchbrach ein lautes Meckern die Stille. Das Zicklein kam durch die Tür, es schleifte das Seil hinter sich her, mit dem es im Stall festgebunden gewesen war. Hinter der letzten Stuhlreihe blieb es stehen und kaute gemütlich vor sich hin. Liese und Heinrich kicherten, wollten aufstehen und zur Ziege laufen. Doch Theodor bedeutete ihnen, sitzen zu bleiben. Er zog die Ziege zurück in den Stall, wo er das Seil fest verzurrte. Zurück im Schulzimmer zeigte er wieder auf die Tafel. „Könnt ihr mir die Buchstaben vorlesen?“